Joco



Es geschieht nicht mehr allzu häufig, dass man als altgedienter Musikjournalist von einem neuen Künstler vom Fleck weg regelrecht umgeblasen und innerhalb einer kurzen Zeitspanne zu einem richtigen Fan wird. Doch genau das geschah mit JOCO vor gut zwei Jahren. Die erste Begegnung mit den Schwestern Josepha und Cosima Carl passierte über gemeinsame Freunde und die beiden erzählten, dass sie zu zweit eine Band sind. Aha, dachte man, in der zugegebenermaßen typisch arroganten Musikkritiker-Haltung: Zwei Stimmen, zwei Trommeln, ein Piano – was kann das denn sein?

Kurz darauf im Briefkasten: JOCOs Debütalbum ›HORIZON‹, frisch erschienen, in nur zwei Tagen im Abbey Road Studio in London komplett eingespielt und flächendeckend sehr positiv besprochen. Auf diesen 13 Songs hörte man zwei wirklich schwerelos und wie selbstverständlich sich umspielende Stimmen, die in ihrer brillanten Zweistimmigkeit fast zu einer einzigen verschmelzen. Begleitet von einem perlenden, von Cosima enorm virtuos bedienten Piano sowie den ultraprägnanten, mit unglaublicher Chuzpe und Überzeugtheit maximal auf den Punkt reduzierten Rhythmen von Josepha. Ein Aha-Erlebnis: JOCOs Musik zeigt, wie wenig es braucht, um sehr groß, dicht und komplett zu klingen. Dies alles nötigte künstlerisch und technisch höchsten Respekt ab. Und doch war es erst der Anfang einer stetig wachsenden Begeisterung für diese beiden ausgezeichneten Musikerinnen.

Denn erst, wenn man JOCO einmal live gesehen hat, erschließt sich der ganze Zauber dieser zwei Schwestern. Dort kulminieren die Melodien und Texte, ihre Stimmen, die souveräne Selbstverständlichkeit, mit der sie ihre Songs spielen, sowie eine schwer greifbare und unmöglich mit Worten zu beschreibende Aura zu etwas Magischem, irgendwie Transzendentalem, das sich auf jedes Publikum überträgt. Dass dies so ist, wurde in den kommenden Monaten immer wieder überprüft – ob junge Hipster auf dem Fusion-Festival, betagte Van Morrison-Fans (den JOCO in Deutschland supporten durften), das Laufpublikum auf einem Hamburger Stadtteilfest, abgeklärte Fach-Besucher des Reeperbahn Festivals oder hochgebildete KunstgalerieWeißweinschlürfer: JOCO nehmen wirklich jede Menschengruppe mit, schenken Unbeschwertheit und ein Lächeln, bringen Dauerplapperer zum Schweigen und saugen im besten Sinne des Wortes ein. Mit Songs, die aus nur wenigen Bausteinen bestehen, aber gleichzeitig – der Name des Debütalbumsist eben Programm – horizontweit aufgehen.

Entsprechend ist auch der Titel des neuen, Ende August erscheinenden Albums programmatisch: ›INTO THE DEEP‹ bietet erneut 13 Lieder, die in die Tiefe gehen. Textlich, gedanklich und kompositorisch natürlich, aber nicht nur das. Denn JOCO haben die Tiefe ganz allgemein ausgelotet, ob in Form von neu hinzugenommenen Bassspuren, Bläsersätzen aus tiefen Hörnern und Bass-Posaunen, aber auch der Tiefe von Arrangements.

Für ›INTO THE DEEP‹ zogen die beiden für ein paar Wochen nach London. Gemeinsam mit dem Produzenten und Grammy-Gewinner Steve Orchard (Paul McCartney, Coldplay, Björk), mit dem sie bereits an ›HORIZON‹ gearbeitet hatten, nahmen sie sich im Abbey Road sowie im RAK Studio Zeit für Experimente und Ausdehnungen ihrer enorm dichten und sinnstiftenden Arrangements. »Wir wollten uns bei dieser Platte keine Gedanken darum machen, ob und wie sich das alles später live umsetzen lässt«, berichtet Cosima. »Wir wollten einfach das Bestmögliche für jeden einzelnen Song und haben deshalb viel ausprobiert und experimentiert…ohne die Songs zu überladen, vielmehr um ihre Größe in der Purheit zu entfalten“, ergänzt Josepha – so, wie sich die beiden stets in allem perfekt zu ergänzen scheinen.

Diese perfekte Ergänzung liegt auf der Hand. Josepha und Cosima, in Kiel geboren und an der ostfriesischen Küste aufgewachsen, singenzusammen, seit sie die ersten Vokale bilden können. Sie studierten Musik in den Niederlanden, machten verschiedenste Banderfahrungen, bis sie schließlich in ihrem außergewöhnlichen Duo ihre künstlerische Heimat fanden. Alles bei JOCO folgt einer sehr intuitiven Form des Wachsens. Cosima: »Wenn mich eine Idee packt und ich beginne einen Song damit zu schreiben, habe ich meist direkt ein gewisses abstraktes Bild vom fertigen Song dazu im Kopf. Diesem noch ungreifbaren Bild will ich auf den Grund gehen, dabei entstehen Musik und Text, meist parallel. Wir tauchen ein in die Komposition, bis es sich richtig und fertig anfühlt.«

Die Songs auf ›INTO THE DEEP‹ werfen einen Blick hinter das Sichtbare. Es geht um Alltäglichkeiten, allerdings verdichtet in einer brillant präzisen, lyrischen Betrachtungsweise; es geht um die Tiefe von Emotionen, von Beziehungen,aber auch um die Tiefe des Meeres oder die tiefe Verbundenheit zu sich selbst, wenn man erst die Schönheit der Einsamkeit in sich gefunden hat. Es geht um Fluchten aus dem Alltag, um Selbstbehauptung und Selbstachtung (wie etwa in der ersten Single ›RACQUET‹, die, wenn man möchte, auch als ein emanzipatorisches Statement verstanden werden kann, aber niemals muss). Aber auch um die Flucht vor dem stetigen Streben nach der Besonderheit, wo doch die wahre Schönheit gerade in der Echtheit steckt.

All dies formulieren JOCO prägnant und mitreißend und formen es in Songs, die nach nur wenigem Hören zu engen Freunden werden, die man nicht mehr vergisst und nie mehr missen möchte. Denn sie besitzen zweifellos großes ›Hitpotenzial‹, ohne es darauf aber auch nur eine Sekunde anzulegen. Sie sind einfach da, gehen nicht mehr weg, bleiben in der Hirnrinde auf die schönste, ungewöhnlichste Weise kleben. Das geht im Übrigen nicht nur den deutschen Fans so, sondern Menschen in ganz Europa – wie sie etwa im Zuge ihrer Europatour an der Seite von Lucy Rose herausfinden konnten. Ob in Brüssel, Amsterdam oder Paris: Überall schlug den beiden größte Begeisterung entgegen.

JOCO gelingt mit ›INTO THE DEEP‹ also etwas, das in der heutigen Musikbranche absolute Seltenheit genießt: Mit maximaler künstlerischer Freiheit kreieren sie ausschließlich das, was auf natürlichste Weise aus ihnen herauskommt – und treffen damit den Nerv eines jeden, der ein Herz und ein wenig Verstand hat.

So etwa erging es auch dem Autor dieser Zeilen, der JOCO inzwischen wohl gut ein Dutzend Mal live sah und sich trotzdem jedes Mal aufs Neue wie irre auf eines ihrer Konzerte freut. Und der all den Kollegen, die das Glück haben werden, mit Josepha und Cosima in den nächsten Wochen und Monaten über ihr neues Album zu sprechen, noch einen letzten Tipp geben möchte: Ja, sie sind Schwestern, ja, sie sind zwei attraktive junge Frauen, und ja, sie haben auch am Vorentscheid zum ESC 2016 teilgenommen, quasi als das „Indie-Feigenblatt“ der ganzen Veranstaltung; aber sprecht sie trotzdem lieber auf ihre Musik an, auf Songs oder einzelne Textzeilen – und man kann garantieren, dass man ein Gespräch führen wird, das den eigenen Horizont bis in die Tiefe erweitern wird.

Fotocredit: Katja Ruge
Am
07.06.2018